ACHTUNDDREISSIG

Obwohl ich mir wie ein Idiot vorkam, als Ava den Laptop manifestiert hat (ich meine, Mann, warum bin ich da nicht selbst draufgekommen?), haben wir unsere Antwort ziemlich schnell bekommen.

Doch leider war es nicht die gute Nachricht, auf die ich gehofft hatte.

Eigentlich eher im Gegenteil.

Gerade als alles wieder ins Lot zu kommen schien und so aussah, wie es sollte, fielen meine Hoffnungen wie ein Kartenhaus zusammen. Denn ich erfuhr, dass der blaue Mond, der seltenste aller Vollmonde, der bloß alle drei bis fünf Jahre vorkommt und der außerdem mein einzig mögliches Fenster für eine Zeitreise darstellt, seinen nächsten geplanten Auftritt ausgerechnet morgen hat.

»Ich kann es immer noch nicht glauben«, sage ich und steige aus dem Auto, während Ava die Parkuhr mit mehreren Münzen füttert. »Ich dachte, es sei nur ein einfacher Vollmond. Mir war völlig unklar, dass es da einen Unterschied gibt oder dass sie so selten sind. Was soll ich denn jetzt machen?«

Sie klappt ihren Geldbeutel zu und sieht mich an. »«Tja, soweit ich sehe, hast du drei Möglichkeiten.«

Ich presse die Lippen zusammen und weiß nicht, ob ich auch nur eine davon hören will.

»Du kannst gar nichts tun, dich einfach zurücklehnen und zusehen, wie alles, was du liebst und schätzt, vor die Hunde geht, du kannst dich auf Kosten aller anderen nur um eine einzige Sache kümmern, oder du kannst mir genau sagen, was hier los ist, damit ich sehe, ob ich dir helfen kann.«

Ich hole tief Luft und sehe sie an, wie sie in ihrer gewohnten Kluft aus verwaschener Jeans, silbernen Ringen, einer weißen Baumwolltunika und braunledernen Zehensandalen vor mir steht. Immer zur Stelle, immer verfügbar, immer bereit, mir zu helfen, sogar wenn ich gar nicht kapiere, dass ich Hilfe brauche.

Selbst damals, als ich ihr gegenüber abweisend (und wenn ich ehrlich bin - mehr als ein bisschen fies) war, war Ava da und hat gewartet, bis ich eingelenkt habe. Nie hat sie mir meine negative Haltung ihr gegenüber zum Vorwurf gemacht, nie hat sie mir die kalte Schulter gezeigt oder mich so weggestoßen wie ich sie. Es ist, als hätte sie die ganze Zeit bereitgestanden und darauf gewartet, als meine übernatürlich begabte große Schwester zu fungieren. Und jetzt ist sie so ziemlich die Einzige, die ich noch habe - die Einzige, auf die ich zählen kann, die Einzige, die mein wahres Ich zumindest ansatzweise kennt, einschließlich der meisten meiner Geheimnisse.

Und angesichts all dessen, was ich gerade erfahren habe, bleibt mir keine andere Wahl, als mich ihr anzuvertrauen. Es ist völlig ausgeschlossen, dass ich es allein schaffe, wie ich anfangs noch gehofft hatte.

»Okay.« Ich nicke und versuche, mir einzureden, dass es nicht nur das Richtige ist, sondern die einzige Möglichkeit überhaupt. »Du musst Folgendes für mich tun.«

Und während wir die Straße entlanggehen, schildere ich ihr, was ich an dem Tag in dem Kristall gesehen habe. Dabei erkläre ich ihr so viel wie möglich, während ich das bewusste Wort vermeide und mein Versprechen gegenüber Damen halte, nämlich niemals preiszugeben, dass wir unsterblich sind. Ich sage Ava, dass Damen das Gegengift braucht, damit er sich wieder erholt, ergänzt durch seinen »speziellen roten Energy-Drink«, um wieder zu Kräften zu kommen. Ich erkläre, dass ich vor der Wahl stehe, entweder mit der Liebe meines Lebens zusammen zu sein oder vier Leben zu retten, die nie hätten enden dürfen.

Als wir dann vor dem Laden stehen, in dem sie arbeitet, dem Laden, an dem ich schon oft vorbeigekommen bin, den ich jedoch niemals betreten wollte, sieht sie mich an, und ihr Mund öffnet sich, als wollte sie etwas sagen, doch dann macht sie ihn wieder zu. Dieses Schauspiel wiederholt sich ein paarmal, bis sie schließlich hervorstößt: »Aber schon morgen] Ever, kannst du so früh schon gehen?«

Ich zucke die Achseln, und mir wird flau im Magen, als ich es laut ausgesprochen höre. Doch da ich auf keinen Fall noch drei oder fünf Jahre warten kann, nicke ich wesentlich selbstsicherer, als mir zu Mute ist. Ich sehe sie an und sage: »Und genau deshalb musst du mir helfen, das Gegengift zu beschaffen und einen Weg zu finden, es ihm zusammen mit dem Elix ...« Ich halte inne und hoffe, sie nicht hellhörig gemacht zu haben, ehe ich es hastig zu überspielen suche, indem ich sage: »... diesem roten Energy-Drink zukommen zu lassen, damit er sich erholt. Ich meine, jetzt, wo du weißt, wie man in sein Haus gelangt, fällt dir bestimmt auch eine Methode ein, wie du, na ja, ich weiß nicht, ihm etwas in sein Getränk tun kannst oder so«, sage ich in dem Wissen, dass das wie der dümmste Plan aller Zeiten klingt. Trotzdem bin ich fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass er funktioniert. »Und dann, wenn es ihm besser geht, wenn der alte Damen zurückkehrt, kannst du ihm erklären, was alles passiert ist, und ihm das ... das rote Getränk geben.«

Sie sieht mich mit so widersprüchlicher Miene an, dass ich nicht weiß, wie ich ihren Gesichtsausdruck interpretieren soll, also rede ich einfach weiter. »Ich weiß, dass es wahrscheinlich so aussieht, als würde ich mich gegen ihn entscheiden, doch das tue ich nicht - ehrlich nicht. Eigentlich kann es sogar gut sein, dass nichts davon überhaupt nötig sein wird. Es ist nämlich durchaus möglich, dass, wenn ich wieder so werde wie zuvor, alles andere auch wieder in seinen früheren Zustand zurückkehrt.«

»Hast du das gesehen?«, fragt sie mit leiser, sanfter Stimme.

Ich schüttele den Kopf. »Nein, das ist nur eine Theorie, obwohl ich glaube, dass sie stimmt. Ich meine, ich kann es mir gar nicht anders vorstellen. All das Zeug, das ich dir jetzt erzähle, ist nur eine Vorsichtsmaßnahme und wird bestimmt nicht nötig sein. Das heißt, dass du dich an dieses Gespräch nicht erinnern wirst, weil es so sein wird, als hätte es nie stattgefunden. Ja, du wirst dich nicht einmal daran erinnern, dass du mich gekannt hast. Aber nur für den Fall, dass ich mich irre, was ich allerdings nicht glaube, aber nur für den Fall, muss ich einen Plan in der Hinterhand haben - du weißt schon, nur für den Notfall«, murmele ich, wobei ich mich frage, wen ich eigentlich überzeugen will, mich oder sie.

Sie greift nach meiner Hand und sieht mich voller Mitgefühl an. »Du tust das Richtige«, sagt sie. »Und du kannst dich glücklich schätzen. Nicht viele bekommen die Chance zurückzugehen.«

Ich sehe sie an, und meine Lippen verziehen sich zu einem Grinsen. »Nicht viele?«

»Na ja, jedenfalls niemand, der mir jetzt spontan einfallen würde.« Sie grinst zurück.

Doch obwohl wir beide lachen, klingt meine Stimme ernst, als ich erneut zu sprechen beginne. »Mal im Ernst, Ava, ich könnte es nicht ertragen, wenn ihm etwas zustößt. Ich meine, ich würde ... Ich würde umkommen, wenn ich irgendwie erfahre, dass ihm doch etwas passiert ist. Und dass es meine Schuld war ...«

Sie drückt meine Hand, öffnet die Ladentür und führt mich hinein, während sie flüstert: »Mach dir keine Sorgen. Du kannst mir vertrauen.«

Ich folge ihr an Regalen voller Bücher, einer CD-Wand und einer ganzen Ecke mit Engelsfiguren entlang, ehe wir an einer Maschine vorbeikommen, die angeblich Augen fotografieren kann, und auf einen Tresen zugehen, an dem eine ältere Frau mit einem langen grauen Zopf in einem Buch liest.

»Ich wusste gar nicht, dass du heute Dienst hast.« Sie legt ihren Roman beiseite und sieht uns an.

»Hab ich auch nicht.« Ava lächelt ihr zu. »Aber meine Freundin Ever hier ...« Sie nickt zu mir hin. »Sie braucht das Hinterzimmer.«

Die Frau mustert mich und versucht offenbar, meine Aura zu lesen und ein Gefühl für meine Energie zu bekommen, ehe sie Ava einen fragenden Blick zuwirft, als sie nichts ausmachen kann.

Doch Ava lächelt nur und nickt zustimmend, um zu signalisieren, dass ich den Zugang zum »Hinterzimmer«, was immer das sein mag, verdient habe.

»Ever?«, sagt die Frau, während sie eine Hand zum Hals führt und mit dem Türkisanhänger spielt, der an ihrem Schlüsselbein hängt.

Wie ich im Sommerland bei meiner kurzen Recherche über Mineralien und Kristalle auf dem iMac erfahren habe, werden solche Steine seit Hunderten von Jahren für Amulette verwendet, die heilen und beschützen sollen. Und danach zu urteilen, wie sie gerade meinen Namen ausgesprochen und was für einen misstrauischen Blick sie aufgesetzt hat, muss ich gar nicht erst ihre Gedanken anzapfen, um zu wissen, dass sie überlegt, ob sie sich womöglich vor mir schützen muss.

Sie zögert und blickt zwischen Ava und mir hin und her, ehe sie sich ausschließlich auf mich konzentriert und sagt: »Ich bin Lina.«

Das war's. Kein Handschlag, keine herzliche Umarmung. Sie nennt lediglich ihren Namen, geht auf die Tür zu und dreht das dort hängende Schild von »OFFEN!« zu »BIN GLEICH WIEDER DA!« um. Dann bedeutet sie uns, ihr einen kurzen Flur entlang zu folgen, an dessen Ende eine violette Tür wartet.

»Darf ich fragen, worum es geht?« Sie kramt in der Tasche nach einem Schlüsselbund, immer noch unentschlossen, ob sie uns hineinlassen soll oder nicht.

Ava nickt mir zu und signalisiert mir, dass ich jetzt dran bin. Also räuspere ich mich und ramme die Hand in die Tasche meiner jüngst manifestierten Jeans, deren Beine zum Glück noch bis zum Boden reichen. Ich ziehe den zerknüllten Zettel heraus und sage: »Ich, ähm , ich brauche ein paar Sachen.« Unwillkürlich zucke ich zusammen, als Lina ihn mir aus der Hand reißt und ihn durchliest. Sie hebt eine Braue, schnaubt irgendetwas Unverständliches und mustert mich noch einmal genauer.

Und gerade als es so aussieht, als wollte sie mich abweisen, drückt sie mir die Liste unsanft wieder in die Hand, schließt die Tür auf und winkt uns beide in einen Raum, den ich so nicht erwartet hätte.

Ich meine, als mir Ava gesagt hat, dass dies der Ort sei, wo es das gäbe, was ich brauche, war ich mehr als nervös. Ich war sicher, man würde mich in einen gruseligen, verborgenen Keller stoßen, der voll ist von befremdlichen und Furcht einflößenden rituellen Gegenständen wie Fläschchen mit Katzenblut, abgetrennten Fledermausflügeln, Schrumpfköpfen, Voodoopuppen - Sachen, wie man sie im Kino oder im Fernsehen zu sehen kriegt. Aber dieser Raum ist ganz anders. Ja, er sieht sogar mehr oder weniger wie ein ganz normaler, mehr oder weniger gut aufgeräumter Vorratsschrank aus. Na ja, abgesehen von den leuchtend violetten Wänden, an denen handgeschnitzte Totems und Masken hängen. Ach, und die gemalten Göttinnenbilder, die an den überfüllten Regalen lehnen, deren Bretter sich unter schweren Folianten und steinernen Gottheiten biegen. Doch der Aktenschrank ist ein ganz normales Modell. Als sie einen Schrank aufschließt und darin herumkramt, spähe ich über ihre Schulter, doch ich sehe rein gar nichts, bis sie mir einen Stein reicht, der in jeder Hinsicht falsch wirkt.

»Mondstein«, sagt sie, als sie meine Verwirrung bemerkt.

Ich starre den Stein an und weiß instinktiv, dass er nicht so aussieht, wie er sollte, und auch wenn ich es nicht erklären kann, irgendetwas stimmt daran nicht. Um sie nicht zu beleidigen, da sie mich garantiert ohne Zögern hinauswerfen würde, schlucke ich schwer, nehme all meinen Mut zusammen und sage: »Ähm, ich brauche aber einen, der roh und ungeschliffen ist und noch seine absolut ursprüngliche Form hat - der hier kommt mir für meine Bedürfnisse ein bisschen zu glatt und glänzend vor.«

Sie nickt kaum wahrnehmbar, aber eben doch ein bisschen, dann verzieht sie die Lippen, ehe sie den Stein hervorholt, um den ich sie gebeten habe.

»Das ist er«, sage ich in dem Wissen, dass ich ihre Prüfung bestanden habe. Vor mir liegt ein Mondstein, der nicht annähernd so schön glänzt wie der andere, der jedoch hoffentlich das bewirken wird, was er soll, nämlich neue Anfänge begünstigen. »Und dann brauche ich eine Schale aus Quarzkristall, die auf das siebte Chakra eingestimmt ist, ein von tibetischen Mönchen besticktes rotes Seidentäschchen, vier geschliffene Rosenquarze, einen kleinen Stern - nein, einen Staurolithen? Spricht man das so aus?« Ich schaue gerade rechtzeitig auf, um sie nicken zu sehen. »Ach, und dann noch den größten ungeschliffenen Zoisiten, den Sie haben.«

Als Lina mit in die Hüften gestemmten Händen stehen bleibt, ist mir klar, dass sie sich fragt, wie all diese scheinbar willkürlich ausgewählten Gegenstände zusammenpassen sollen.

»Ach, und ein Stück Türkis, etwa in der Größe wie der, den Sie tragen«, sage ich und zeige auf ihren Hals.

Sie mustert mich und nickt mir äußerst knapp zu, ehe sie sich umdreht und die Steine herauszusuchen beginnt. Sie wickelt sie so beiläufig ein, dass man glauben könnte, sie würde im Naturkosdaden Lebensmittel einpacken.

»Ach, und hier ist eine Liste mit Kräutern«, sage ich, fasse in die andere Tasche und ziehe einen zerdrückten Zettel heraus, den ich ihr reiche. »Am liebsten welche, die während eines Neumonds gepflanzt und von blinden Nonnen in Indien gepflegt worden sind«, füge ich hinzu und staune, als sie mir einfach die Liste abnimmt und, ohne mit der Wimper zu zucken, abermals nickt.

»Darf ich fragen, wofür das ist?«, sagt sie, ohne den Blick von mir zu wenden.

Doch ich schüttele nur den Kopf. Ich konnte es Ava schon kaum sagen, und mit der bin ich befreundet. Also kommt es nie und nimmer infrage, dass ich es dieser Frau erzähle, ganz egal, wie großmütterlich sie auch wirken mag.

»Ähm, das würde ich lieber für mich behalten«, sage ich, in der Hoffnung, dass sie das respektiert. Es ist nämlich unmöglich, diese Gegenstände zu manifestieren, da sie unbedingt von ihrem ursprünglichen Herkunftsort stammen müssen.

Wir fixieren einander verbissen. Während ich mir vornehme, so lange wie nötig durchzuhalten, bricht sie den Blickkontakt schon bald ab und beginnt in dem Aktenschrank herumzusuchen und Hunderte von Päckchen durchzusehen. »Ach, und eines noch«, sage ich.

Aus meinem Rucksack krame ich die Zeichnung des seltenen, schwer zu findenden Krauts, das im Florenz der Renaissance oft verwendet wurde. Die letzte unerlässliche Zutat, um das Elixier wirksam zu machen. Ich reiche ihr das Blatt und frage: »Kommt Ihnen das bekannt vor?«

 

Der blaue Mond
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